PRESSE - HEWA 2022

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Cosquer - Die prähistorische Höhle unter der Meer
 
Die Grotte Cosquer bei Marseille wurde für dreiundzwanzig Millionen Euro nachgebaut..
 
La Grotte Cosquer, die in das Gebäude der Villa Méditerranée in Marseille zurückgekehrt ist, enthüllt endlich ihre seit 30.000 Jahren begrabenen Geheimnisse in einer Tiefe von 37 Metern. Das mediterrane Cosquer-Abenteuer entfaltet sich auf drei Ebenen mit unter dem Meer, der prähistorischen Höhle, die es auf 1750 m2 zu entdecken gilt...
 
Der Besuch beginnt über dem Meer und führt über einen Ponton zum Tauchclub, der im gleichen Geist wie der von Henri Cosquer in den 80er Jahren in Cassis restauriert wurde.
 
Machen Sie sich bereit, 37 Meter unter dem Meeresspiegel zu tauchen und in die Vergangenheit zu reisen – 33.000 Jahre vor der Gegenwart!
 
Tropfsteine in 3D als Zukunft des Ausstellungswesens? Die Grotte Cosquer bei Marseille wurde für dreiundzwanzig Millionen Euro nachgebaut und steht nun Besuchern offen.
 
Sieht so der Museumsbesuch der Zukunft aus? Wir setzen einen Kopfhörer auf und nehmen zu sechst Platz in einer Art futuristischem Boxauto. Dieses sogenannte Modul setzt sich automatisch in Bewegung und fährt in die „Restitution“ – wir kommen auf den Begriff zurück – der steinzeitlichen Grotte Cosquer bei Marseille ein. Tropfsteine, Wasserflächen wie schwarze Spiegel, die ersten Anzeichen menschlicher Präsenz: Rauchspuren an der Decke und – man meint das Wiehern zu hören – vier kohleschwarze Pferde an einer Kalksteinwand. Bald folgen gezeichnete und gravierte Bisons nach, Gämse und Hirsche sowie Tierarten, die ausgestorben sind oder in der Höhlenmalerei nur selten vorkommen. Die Art und Weise, wie während der fünfunddreißigminütigen Rundfahrt der Blick der Besucherinnen und Besucher geführt wird, hat etwas Kinematographisches: Der Audioguide kommt auf ein Objekt im Raum zu sprechen, das „Modul“ dreht sich zu diesem hin, unsichtbare Projektoren leuchten die betreffende Stelle aus. Bei schlecht sichtbaren Ritzzeichnungen zeichnet gar ein Laserstrahl die Konturen nach.
 
Vom finster erdfarbenen untersten Geschoss führt der Parcours weiter ins sonnig reinweiße oberste. Hier erhellt ein weiträumiges Centre d’interpréta­tion den Kontext. Die Nachbildung eines Höhlenunterschlupfs öffnet sich auf eine provenzalische Kaltsteppenlandschaft hin, mit Bewegtbildern der steinzeitlichen Fauna. Beim Verlassen der Kaverne stößt man – in ausgestopfter oder nachgeschaffener Form – auf alle elf Tierarten, die in der Cosquer-Grotte abgebildet sind: Bison, Gämse, Hirsch, Löwe, Pferd, Robbe, Saiga-Antilope und Steinbock sowie die ausgestorbenen Spezies Auerochse, Megaloceros (ein enormer Hirsch) und Riesenalk.
 
Ihnen zur Seite steht die lebensechte Replik einer helläugigen Sapiens-Schönheit. Über dem Brennnessel-Höschen trägt die paläolithische Venus einen Patchwork-Pelz; ihr Stirnband zieren kleine Muscheln. So schlägt der Rundgang elegant den Bogen zur Meeresthematik, welche Schmuckstücke aus Fischgräten oder Pottwal-Zähnen und ein Boot aus Bisonhäuten illustrieren. Evoziert wird hier auch der Anstieg des Meeresspiegels in den letzten neuntausend Jahren. Befand sich die Höhle einst sechs Kilometer von der Küste entfernt und lag ihr Eingang bis zu achtzig Meter über dem Meeresniveau, wurde ihr Inneres seit dem Ende der letzten Eiszeit zu vier Fünfteln überschwemmt. Der (einzige) Eingang liegt heute siebenunddreißig Meter unter Wasser! Mit dem neuerlichen Anstieg der Ozeane seit dem zwanzigsten Jahrhundert ist die Grotte Cosquer dem Untergang geweiht. Jedes Jahr hebt sich der Wasserspiegel um mindestens drei Millimeter; sämtliche Zeichnungen und Gravierungen befinden sich maximal zwei Meter über dem Wasserniveau.
 
 
Die Zeit, die zum Erforschen der Höhle bleibt, ist gezählt. Zumal der Zugang mühsam ist, potentiell gefährlich und nur bei Schönwetter möglich. Dabei besticht die Kaverne nicht in erster Linie durch die künstlerische Güte ihrer Artefakte. Jean Clottes, Jean Courtin und Luc Vanrell, die die Grotte Cosquer seit den frühen Neunzigerjahren erforscht haben, nennen die 229 Tierfiguren „ungeschliffen“ und „summarisch“. Im Vergleich zu Altamira, Chauvet und Lascaux, den „Sixtinischen Kapellen“ der Höhlenmalerei mit ihren großformatigen und figurenreichen „Wandtableaus“, wirkt Cosquer tatsächlich ein wenig dürftig.
 
© FAZ

 
 
Der Taucherkäfig senkt sich rumpelnd und schwankend in die Meerestiefe, Wasser peitscht gegen die Bullaugen, es ist eng und dunkel, Platzangst sollte man besser nicht haben. Als die nautischen Instrumente vier Bar Wasserdruck und siebenunddreißig Meter Tiefe anzeigen, stoppt der Aufzug, leichte Panik macht sich breit. Doch sie ist unbegründet, denn in Wirklichkeit hat sich der Kasten keinen einzigen Zentimeter bewegt und der Abstieg in den Schlund des Mittelmeeres ist mittels technischer Raffinesse nur simuliert. Es ist der spektakuläre Auftakt zur Erkundung der nachgebildeten Grotte Cosquer, die in der futuristischen, einem riesigen Sprungbrett ähnelnden Villa Méditerranée im Hafen von Marseille eingerichtet wurde und seit Kurzem Besucher empfängt.
 
Der Eingang der originalen Grotte Cosquer aus dem Paläolithikum mit ihren bis zu dreißigtausend Jahre alten Tierzeichnungen, Handabdrücken und geometrischen Schraffierungen befindet sich tatsächlich unter dem Meeresspiegel, nämlich im Calanques-Massiv von Marseille. Seinerzeit befand sich dieser „Louvre der Steinzeit“ noch auf dem Trockenen. Erst als am Ende der letzten Eiszeit die Gletscher schmolzen, wurde die Höhle überschwemmt. Heute befinden sich drei Viertel der vom Untergang bedrohten Kaverne unter Wasser.
 
Es war Zufall, dass 1985 der Berufstaucher Henri Cosquer, mit inzwischen zweiundsiebzig Jahren und stämmiger Seebärstatur noch immer rüstig und im Taucheinsatz, den schlauchförmigen Eingang zur Grotte entdeckte und bis zu den noch nicht überschwemmten Hohlräumen und ihren Kunstschätzen vordringen konnte. Jahrelang verschwieg Cosquer seinen sensationellen Fund. „Es war mein geheimer Garten, den ich schützen wollte“, sagt der Namensgeber der weltweit einmaligen Unterwasserstätte. Doch als 1991 drei Amateurtaucher bei einer heimlichen Erforschung der Höhle ihr Leben ließen, entschloss sich Cosquer, seine Entdeckung den Behörden zu melden. Heute wacht der Staat über das versunkene Vermächtnis der ersten Menschen, hat den Eingang mit einem schweren Stahltor verschlossen und erlaubt nur erfahrenen Unterwasserarchäologen den Zugang.
 
Wir müssen keinen Taucherhelm überstülpen, um die Replik der Grotte zu inspizieren, sondern nehmen nach dem vermeintlichen Abtauchen ins Meer in einem ferngesteuerten Elektrowagen Platz, der sechs Personen fasst und den man in ähnlicher Form von Geisterbahnen und Piratenattraktionen in Freizeitparks kennt. Geräuschlos entführt uns das Gefährt in die Eingeweide der Katakomben, deren schrundige Felswände mit Kunstharz zentimetergenau nachgeformt wurden. Die Kommentare erreichen uns über Kopfhörer. Wir sind verblüfft, wie detailgetreu die Fachmaler, die schon die berühmte prähistorische Höhle Chauvet in der Ardèche rekonstruierten, die feinen Linien des kunstsinnigen Homo sapiens mit den gleichen natürlichen Farbstoffen wie damals imitiert haben: Holzasche, Pflanzenstoffe und Oxidpigmente. Zwischen lüsterförmigen Tropfsteinsäulen, die sich in den Wasserbecken spiegeln, präsentiert sich ein erstaunliches Bestiarium: Pferde mit schwarzer Mähne, Bisons mit Furcht einflößenden Hörnern, Steinböcke im dichten Wollpelz und speckige Seehunde. Stars dieser Galerie sind drei Pinguine, deren Spezies selten in Höhlenmalereien vorkommt. Die Präsenz dieser Bewohner unwirtlicher Eiswüsten beweist, dass in der Entstehungsepoche der Grotte polare Bedingungen in der Provence herrschten.
 
Nach einer halben Stunde Fahrt erreichen wir das Ende des Höhlenlabyrinths, doch die Reise durch die jahrtausendealte Zivilisations- und Erdgeschichte ist noch nicht vorüber. Einige Etagen höher hat man die Tiere der Höhlenfresken dreidimensional in Originalgröße nachgebildet. Ein fast elefantengroßer Riesenhirsch posiert mit seinem mächtigen Geweih, groß wie eine Baggerschaufel. Die Saiga-Antilope fällt mit ihrer rüsselartigen Nase auf und der Auerochse mit seinem massigen Körper, der auf kurzen Beinen ruht. In dieser wissenschaftlichen Ausstellung erfährt man auch, dass die Tage der Originalgrotte gezählt sind. Forscher befürchten, dass durch Klimawandel und steigenden Meeresspiegel die urzeitlichen Malereien bis zum Ende dieses Jahrhunderts ganz überflutet sein werden.
 
 
© FAZ
 
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